Bis zum 22. Oktober läuft in der whiteBOX noch die Ausstellung „Fleisch und Stein“. Kuratiert von Cagla Ilk, gehört sie zum whiteBOX-Themenschwerpunkt „Body and Space“ wie Aline Brugels Streetperformance „Corps in Situ in City“. Die seit Anfang September zu besichtigende Plakataktion von menschlichen Körpern, die in einen knappen Kasten eingepasst sind, in ihrer speziellen Lage fotografiert werden und als optische Bausteine in die Gebäudehüllen Münchner Häuser gefügt werden, erfährt zurzeit ihre zweite Auflage mit neuen Fotos an neuen Orten.
Konsequenter Weise beinhalten beide Sichtweisen von „Body and Space“ die Fragen aus dem Spannungsfeld von Urbanität und Humanität. Man begreift im Besonderen die Stadt als körperlichen Interaktionsraum. Und es geht auch um die Aneignung der Stadt durch Interventionen und Inszenierungen des Körpers. Wie sich der gesellschaftliche Umgang mit der Rolle des Körpers als sozial bedingtem Konstrukt gestaltet, das fragte sich auch der berühmte Kultursoziologe Richard Sennett in seiner Arbeit „Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation“. Wie manifestieren sich also Körper auch im Widerspruch zu offiziellen oder offiziösen Leitbildern? Mit Arbeiten von sieben Künstlerinnen und Künstlern aus der Türkei über Spanien bis Frankreich, Kanada und Berlin hat Cagla Ilk, inspiriert vom Ansatz Sennetts, eine Dokumentation des Körpers in und an städtischen Artefakten geschaffen, die von kühler Beunruhigung bis zu unterschwelliger Rebellion reicht.
Teile dieser Momentaufnahmen des Körpers, fast möchte man sagen des Homo sacer des nackten Lebens im Sarkophag der Stadt, werden bis zum 22. Oktober in eine Reihe von Performances zum (gesellschaftlichen) Leben (wieder-) erweckt.
In der sehr ruhig komponierten Ausstellung erscheinen Bilder auf Monitoren nackt , sie zeigen nichts als körperliche Eingeschränktheit und Ausgesetztheit, Stille und Verlassenheit. Wie die 10-Kanal-Video-Installation „Entscheidungen“ von Matthias Wermke und Mischa Leinkauf aus Berlin. Von der Decke hängen 10 Monitore herab, auf deren Bildschirmen ein Mann an einer Kante, einem Vorsprung, an einem Geländer hängt – über der Stadt, die seinem möglichen Absturz gleichgültig gegenübersteht. Geräuschlos rasen unter The Hanged Man Stadtsilhouetten hinweg. Fleisch und Stein, eine inspirierende Ausstellung. Die Stadt, blind in ihrer Mobilität, nimmt keine Notiz.
Schräg gegenüber sehen wir „In and Out“, einen Aline Brugel-Kasten, wo in einer Slideshow die Fotos der eingepassten Teilnehmer der neuen Serie zu sehen sind. Der Baustein Mensch, bereit eingemauert zu werden – Belustigung, Ironie der Beklemmung. Daneben, in den Kästen der Monitore, der bodenlose Raum, der ewige erscheinende Moment vor dem Absturz. Als würde ein Moment der Sentimentalität, der Erinnerung den Fatalismus von Eingeschränktheit und Passivität relativieren wollen, hängen dazwischen Kleider von Frauen verschiedener Schichten, die Mehtap Baydou in der Fußgängerzone am Marienplatz gesammelt hat. „Karakter bürünmek“ wird am 14. Oktober, anlässlich der langen Nacht der Museen zu einer Performance, wenn Mehtap Baydou alle diese Kleider an- und dann als Ganzes wieder ausziehen wird. Ein Spiel mit neuer Identität durch das Verschwinden einer Identität der Erinnerung.
Die Skulptur „Alexanderplatz“ gibt Zeugnis von Millionen von Menschen, die durch eine Stadt laufen und nicht mehr hinterlassen haben als ihre Schritte. Mit der Maßzahl ihrer eigenen Schritte und der Länge ihres Körpers hat Larissa Fassler das Fußgänger-U-Bahn System des Berliner Alexanderplatz ausgemessen und daraus ein Modell gebaut, das die Mitte des Raums beherrscht in kafkaesker Monstrosität. Ein versteinert, verkalkt wirkender Körper, herausgehoben aus dem Untergrund. Der stillste Moment dieser Ausstellung. Keine floristisch bunte Animation eines reichen Verkehrsnetzes. Ein graues versteinertes Menetekel verhallter Schritte.
Wieder entsteht eine große und vor allem nachhaltige Wirkung, ohne dass die KünstlerInnen der Arbeit ein explizites persönliches Commitment mitgegeben hätten. Es ist so etwas wie das Paradox einer leidenschaftlichen Kälte. Die völlige Abwesenheit empathischer Formeln ist es, die den Arbeiten ein faszinierendes Engagement verleiht. Ebenso unaufdringlich, aber höchst eindringlich, die große Videoarbeit „Ser Y Durar“ (To be and last) der Gruppe Democracia um Iván Lopez und Pablo España.
Eine Gruppe von Parcour-Läufern in roten Kapuzen-T-Shirts mit dem Sternemblem des Kommunismus entert den Cementerio civil de Madrid. Grabsteine, Wände mit eingelassenen kleinen Alkovengräbern, Bäume, Mausoleen dienen den wilden Artisten ihre Salti, Spiralen, Sprünge über der Totenruhe zu exekutieren. Ein fesselnder Par Force-Lauf, der den Charakter einer Überwindung hat. Vielleicht auch ein Körperritual der Wiederweckung. Der Friedhof aus dem späten 19. Jahrhundert ist Teil des Cementerio de La Almudena und des Cementerio judio. Wer genauer hinschaut sieht in den jagenden Bildern, die gelegentlich in Zeitlupen gestreckt werden, Symbole des spanischen Anarchismus und Kommunismus. Hier sind Sozialistenführer begraben wie Pablo Iglesias, Marxisten sowjetischer Couleur wie Enrique Lister und auch die Ikone des spanischen Kommunismus „La Passionara“ Dolores Ibarruri aus Asturien, die heute noch mit ihrem Kampfruf „No pasarán!“ (Sie werden nicht durchkommen) zitiert wird. Die Streetart-Derwische der Gruppe Democracia formulieren mit ihren Körpern. Sie ermuntern die Geister der Vergangenheit.
Performance-Termine siehe unter www.whitebox.art.