Am Ende muss aus der Vielfalt etwas Gemeinsames entstehen
Vielfalt steckt in der DNA eines Orchesters. Gute und erfolgreiche Orchester müssen in der Lage sein, Vielfalt zu leben. Stimmen Sie zu?
Nikolaus Pont (NP): Unbedingt! Wir durchleben aktuell in der Musikwelt viele Entwicklungen, aus denen sich immer neue Erwartungshaltungen formen, denen wir als Orchester gerecht werden müssen und wollen. Allein wenn ich an das Repertoire denke, liegt darin eine unglaubliche Vielfalt. Das sind mittlerweile 250 bis 300 Jahre, die ein modernes Orchester heutzutage beherrschen muss. In der einen Woche müssen sich unsere Musiker auf eine barocke Musiksprache einlassen. In der nächsten auf eine Partitur, die gerade erst vor 4 Tagen fertig geworden ist.
Anne Schoenholtz (AS): Ich glaube, dass es für Orchester heutzutage grundsätzlich sehr wichtig ist, eine persönliche Vielfalt zu entwickeln und zu zeigen. Nur durch eine nach außen getragene Vielfalt können sich Orchester voneinander unterscheiden, statt in der Beliebigkeit zu versinken.
Orchester ist ein Mannschaftsspiel, das jedoch nur funktionieren kann, wenn ganz unterschiedliche, vielfältige Instrumente und Persönlichkeiten zusammenwirken. Wie erleben Sie das?
NP: Genau das ist der Kern der Faszination, die ein Orchester umgibt. Die Musiker kommen mit ihrem Instrument, ihren persönlichen Vorlieben und Leidenschaften, ihren Arbeits- und Spielweisen und treffen mit rund 100 anderen Musikerinnen zusammen, denen es genauso geht. Manchmal sind die Unterschiede zwischen diesen Individuen größer, manchmal kleiner. Doch egal, wie groß und wie vielfältig die Unterschiede auch sind: Am Ende muss immer etwas Gemeinsames entstehen.

Wie viele Stars verträgt ein Orchester?
AS: Ich glaube, wir unterscheiden uns in der Zusammensetzung gar nicht so sehr von den Teams „normaler“ Unternehmen. Ich hatte neulich eine Diskussion mit einer Freundin zu diesem Thema. Sie meinte, bei ihr in der Firma gäbe es ein großes Mittelfeld an Teammitgliedern, das motiviert ist und sich je nach Projekt unterschiedlich intensiv engagiert. Ein Drittel der Menschen machen dort lediglich, was nötig ist. Und ungefähr 10 Prozent sind, wenn man so will, Stars. Das sind Menschen, die unheimlich viel investieren, die andere antreiben und mitreißen, die Visionen entwickeln. Ich konnte diese Aufstellung sehr gut nachvollziehen. Natürlich brauchen wir Stars im Orchester, weil es denen immer wieder gelingt, die anderen Kolleg*innen zu Höchstleistungen zu motivieren. Für unser Orchester stelle ich fest, dass sich die meisten darüber freuen, dass wir solche Stars in unserem Orchester haben. Wir sind ein Leistungsorchester.
NP: Der Vergleich ist natürlich nicht neu und funktioniert nur begrenz, aber ich musste bei der Frage sofort an eine Fußballmannschaft denken. Da braucht es ja auch die Spielmacher und die Goalgetter, die meistens als die Stars des Teams angesehen werden. Diese Goalgetter, die ständig auf dem Weg nach vorn sind, können jedoch nur dann glänzen, wenn die Spieler im defensiven Mittelfeld oder in der Abwehr perfekt „funktionieren“, Räume zu machen und Sicherheit – und damit Freiheiten! – schaffen, damit vorne virtuos gepasst und gedribbelt werden kann.
Idealerweise helfen auch die Goalgetter heutzutage in der Defensive. Immer mehr Trainer sagen nicht umsonst, dass die Abwehr bereits im Sturm beginnt.
NP: Richtig. Was jedoch die offensiven und defensiven Spieler alle eint: Sie wollen gewinnen. Aber damit das gelingt, muss und darf sich ihr sportlicher wie künstlerischer Ehrgeiz in unterschiedliche Richtungen – nach vorne und hinten – entfalten.
Wie wichtig sind Stars dafür, dass am Ende des Tages die Kasse stimmt?
NP: Wir sind noch immer ein Betrieb, der sehr auf einem Starverständnis fußt. Das betrifft nicht nur uns, sondern auch andere Orchester. Stars, insbesondere im Solobereich, sorgen für gewisse Einnahmen und Ticketverkauf und für eine gewisse Stabilität und Planbarkeit. Das Publikum fragt die großen Stars, die großen Namen nach. Beethoven und Tschaikowsky sind populär. Aber noch viel populärer sind eben Ann-Sophie Mutter oder Lang Lang. Diesen Fokus sehe ich nicht unkritisch, weil er am Ende auch der Vielfalt und den Entfaltungsmöglichkeiten unserer Branche entgegenwirkt. Große Namen führen oftmals auch zu teureren Karten, die sich nur ein wohlhabendes Publikum leisten kann.

Wie wichtig ist der Trainer, der Dirigent, um die Vielfalt im Orchester zu bändigen?
AS: Für uns als Künstler ist er enorm wichtig. Und im Moment haben wir mit Sir Simon Rattle einen Trainer, der von allen geliebt wird und für Harmonie sorgt. Vielfalt funktioniert ja nur, wenn wir eine Ebene finden, auf der wir alle in die gleiche Richtung gehen. Gelingt das nicht, ist das Ergebnis Chaos.
NP: Zur Vielfalt gehört auch immer eine Art kollektives Bewusstsein, ein Verantwortungsgefühl. Wir brauchen die angesprochenen Stars, aber keine Egos. Jemand, der nur auf seine persönlichen Schlagzeilen und Interessen aus ist, dem das Abschneiden des Orchesters insgesamt egal ist, solange er gut performt, der ist heute nicht mehr gefragt.
Wodurch erzeugt Sir Simon Rattle die angesprochene Harmonie?
AS: Ich empfinde Sir Simon Rattle in der Zusammenarbeit sehr alterslos. Er begegnet jungen wie älteren KollegInnen immer auf Augenhöhe. Er agiert am Puls der Zeit. Er ist unglaublich herzlich, empathisch und nahbar. Er ist offen und durch sein menschliches wie musikalisches Spektrum …
… durch seine Vielfalt? …
… entstehen für uns so viele Möglichkeiten.
Gibt es Instrumentengruppen, die bestimmte Persönlichkeiten anziehen? Spiegelt sich die Vielfalt der Instrumente bei Ihnen auch in einer menschlichen Vielfalt wider?
AS: Das ist ja immer die Frage: Was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Beeinflusst der Mensch das Instrument? Oder verändert das Instrument den Menschen. Die psychologischen Auffälligkeiten, die Sie angesprochen haben, sehe ich durchaus. Allein schon bei uns Geigerinnen. Wir haben ja zwei Geigengruppen, eine erste und eine zweite. Eine Aushilfe, die in beiden Gruppen gespielt hat, sagte einmal zu mir, sie hätte das Gefühl gehabt, in einem ganz anderen Orchester zu sein. In der ersten Geigengruppe, in der ich auch bin, sind wir sehr meinungsstark. Und halten mit unserer Meinung auch nicht hinter dem Berg. Wir kriegen deswegen auch manchmal Ärger mit dem jeweiligen Dirigenten. Die zweite Gruppe arbeitet dagegen sehr viel ruhiger und fokussierter. Mich faszinieren beispielsweise auch die extrem unterschiedlichen Charaktere bei den Solobläsern.
NP: Ich sehe die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Instrument auch. Manchmal frage ich mich sogar, wer hier wen beeinflusst. Vielleicht verhält es sich mit Musikern ja bisweilen ähnlich wie mit Tierbesitzern, die mit den Jahren ihrem Tier immer ähnlicher werden. Ein Instrument, das sagen viele Musiker*innen, hat bis zu einem gewissen Grad ja auch eine Art Eigenleben.

Ist die Persönlichkeit ein Merkmal, auf das beim Vorspielen geachtet wird?
AS: Wir sind vielleicht der einzige Beruf, in dem es kein echtes Vorstellungsgespräch gibt. Wir erleben unsere zukünftigen Kolleginnen nur optisch und durch Töne. Es gibt zwar ein Motivationsschreiben, aber die ähneln sich meist sehr. Dennoch glaube ich, dass man aus der Interaktion und dem Zusammenspiel ganz viel über einen Menschen erfährt. So wie ich glaube, dass die Menschen, die uns als Orchester hören, spüren, für welche gesellschaftlichen Werte wir stehen. Ob wir eher konservativ, pluralistisch, ernst oder fröhlich sind. Ich fände es so wichtig, dass wir unsere Vision des Orchesters weiterentwickeln und uns selbst darüber klar werden, wie wir als Orchester auf die Menschen wirken und welche Menschen wir ansprechen wollen. Dazu gehört auch unsere Verbindung zum Werksviertel …
… Sie nehmen hier regelmäßig Ihren Podcast auf, sind auf zahlreichen Veranstaltungen des Viertels präsent und eines Tages wird hier das neue Stammhaus des BRSO stehen …
AS: Das Werksviertel mit seiner Vielfalt verpflichtet uns regelrecht, uns noch intensiver mit etwas auseinanderzusetzen, was ohnehin auf unserer Zukunftsagenda steht. Ich denke, wir müssen uns als Orchester immer wieder die einfachen Fragen stellen. Was ist eigentlich ein Konzerthaus? Früher war ein Konzerthaus etwas völlig anderes, als es heute sein muss. Was ist ein Symphonieorchester? Wenn wir ein junges Publikum, junge Familien erreichen wollen, dann müssen diese Menschen sich mit ihren Themen, ob das nun der Klimawandel ist oder Kriegsängste sind, in unseren Konzerten wiederfinden. Durch eine besondere Programmierung oder durch die Moderation. Natürlich könnten wir auch sagen, dass wir nur dafür da sind, das alte Repertoire zu erhalten und in der bestmöglichen Qualität darzubieten. Das wäre vielleicht relativ bequem, aber weder besonders innovativ noch nah am Zeitgeist.
Stichwort junges Publikum: Hat die Klassik ein Nachwuchsproblem?
NP: Ich werde seit 25 Jahren mit Fragen dazu konfrontiert, ob unser Publikum aussterben wird. Bei aller Sorge um den Nachwuchs, sollten wir nicht aus den Augen verlieren, dass seit 25 Jahren offenbar immer wieder ein Publikum nachgewachsen ist, dass in uns etwas Besonderes sieht. Wir bieten als Orchester übrigens auch einen gesellschaftlichen Mehrwehrt, der in meinen Augen in der Wahrnehmung oft viel zu kurz kommt: Wir bieten Menschen die Möglichkeit, sich zwei Stunden lang auf etwas zu konzentrieren und einzulassen. Das ist bei uns möglich. Wir sind nun mal kein 3-Minuten-YouTube-Format.
Würde Ihnen eine eigene Heimat helfen, die angesprochene Vision und ein unverwechselbares Profil zu entwickeln?
NP: Nicht nur helfen, sie ist letztlich die Grundvoraussetzung dafür. Wie eng ist die Identität der Berliner Philharmoniker mit der Philharmonie verknüpft, deren Form sich sogar im Logo wiederfindet. Die Wiener Philharmoniker werden auch durch den großen Erfolg des Neujahrskonzerts automatisch mit ihrem goldenen Konzertsaal in Verbindung gebracht, was ja auch wieder sehr identitätsprägend ist. Oder das Concertgebouw in Amsterdam, dieses palastartige klassische Gebäude mit der ansteigenden Bühne und dem Publikum, das teils oberhalb der Bühne sitzt. Und der Dirigent kommt von oben eine Treppe herunter. Das alles sind Bilder, die mit den jeweiligen Orchestern verbunden sind. Und diese Bilder fehlen uns natürlich. Was mit uns verbunden wird, sind die Kabelknäule im Backstagebereich des Herkulessaals, die ich auf so vielen Fotos entdecke.
AS: Der Saal, in dem wir spielen, ist ja auch unser Instrument. Die Wiener Philharmoniker klingen so samtig-weich, weil sie seit Jahrhunderten in diesem samtig-weichen Raum spielen. Eine solche klangliche DNA können wir derzeit gar nicht entwickeln. Wie will man denn wiedererkannt werden, wenn man jeden Tag einen neuen Haarschnitt, eine andere Haarfarbe und einen anderen Klamottenstil hat? Wir brauchen ein akustisches und auch ein optisches Wiedererkennungsmerkmal.

Im Werksviertel?
AS: Ich glaube noch immer daran, dass das ein absolutes Leuchtturmprojekt sein kann. Vor allem, wenn wir nicht aufhören, darauf zu bauen, uns als Künstler in einem Kreativquartier zu begreifen und wir dafür ein richtiges Konzept entwickeln. Nicht nur für uns, sondern im Austausch mit anderen hier vor Ort. Themenwochen im Werksviertel: der Jazzclub macht etwas, der Blumenladen macht etwas, die Galeristen machen etwas und wir spielen die Musik dazu. Um kreativ zu sein und uns neuen Zielgruppen zuzuwenden, müssen wir uns gar nicht so sehr verbiegen und beispielsweise im Bikini auftreten. Nein, wir sind in unserem Kerngeschäft, aber dieses ist so tief in die Vielfalt des Viertel eingebettet, dass neue gesellschaftliche Zugänge ganz automatisch entstehen.
NP: Kerngeschäft ist ein schönes Stichwort. Neben all den denkbaren Formaten und neuen Orten, mit denen wir schon jetzt Präsenz zeigen und in Zukunft, so wie Anne sagt, noch viel mehr wollen, ist und bleibt es ein ganz wichtiger Teil unserer Arbeit, in der großen Besetzung von bis zu 115 Musikern aufzutreten. Weil das eben auch etwas ganz Spezielles und Unverwechselbares ist. Bei allen Veränderungen sollten wir das nicht kompromittieren – auch um den Wert neuer Formate und Plattformen nicht zu kompromittieren.
AS: Wir brauchen natürlich keine neuen Formate nur um des Neuen willen. Ich finde es aber schon spannend, was zum Beispiel durch die Digitalisierung in Zukunft möglich sein wird. Auf einem Symposium wurde uns ein Tool vorgestellt, mit dem sich Menschen im Publikum über einen QR-Code zum Beispiel nur die Bratschenstimme auf das eigene Handy holen können. Und der Nachbar sagt sich vielleicht, wenn Du die Bratsche hast, hol ich mir die Geige. So etwas könnte man ja als Lunch-Konzert machen, während es am Abend wieder klassischer wird.
Woran würden Sie eine Vision für das BRSO ausrichten wollen?
AS: Genau damit müssen wir uns auseinandersetzen. Orchester funktionieren heute nicht mehr wie vor 150 Jahren. Alles drumherum hat sich verändert. Wir können nicht so tun, als würden wir in einem Tunnel leben. Wir sollten mehr sein als eine schöne Insel aus einer alten Zeit, die heute noch Bestand haben soll. Ich würde mir zum Beispiel mehr People Of Colour im Orchester wünschen. Oder mehr Dirigentinnen. Wir sind schließlich ein Spiegel der Gesellschaft.
NP: Da stimme ich Dir zu. Wir werden in diesen Zeiten des Umbruchs auch daran gemessen, wie wir die Türen für andere geöffnet haben und welches Erbe wir damit eines Tages hinterlassen werden. In Teilen ist das auch ein natürlicher Prozess. Wir haben in der letzten Zeit, viele langjährige und prominente Orchestermitglieder verabschiedet, die durch 30 bis 40 Jahre jüngere Musikerinnen ersetzt wurden. Die bringen ein ganz anderes Mindeframe ins Orchester. Die Internationalität hat bei uns in den letzten Jahren enorm zugenommen.
Wie hat sich das Berufsbild des Orchestermusikers in den letzten Jahren geändert?
AS: Es ist vielfältiger geworden. Allein durch die zig Gremien in unserem Orchester, die alle bespielt werden müssen. Es gibt einen künstlerischen Beirat, einen Vorstand, eine Klimagruppe, ein Education-Gremium, ein Podcast-Team … Diese organisatorische Vielfalt kostet nicht nur Zeit, sondern setzt auch die Bereitschaft voraus, sich einzubringen. Aus dieser Vielfalt entwickelt sich übrigens auch ein ganz neues Selbstverständnis. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich als Musikerin einmal einen Podcast moderieren würde. Aber er hilft uns, Menschen zu erreichen und noch einmal auf eine andere Weise zu vermitteln, was wir als Orchester eigentlich machen und sind.
NP: Diese Entwicklung finde ich bemerkenswert. Mir fiel das letztens auch erst wieder bei einem unserer Watch-This-Space-Konzerte hier im Werksviertel auf. Da haben zwei Musiker*innen zwischendrin für eine unglaublich sympathische, persönliche und zugleich top professionelle Moderation und Vorstellung der Stücke gesorgt. Und das, obwohl sie beim Spielen selbst sehr fokussiert sein mussten, weil ihnen die Stücke technisch sehr viel abverlangt haben.
Wie ist es eigentlich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Orchester bestellt? Können Musikerinnen auch Mutter sein?
AS: Wir sind inzwischen sehr familienfreundlich geworden.
NP: Wir wollen ein so familienfreundliches Arbeitsumfeld bieten wie irgendwie möglich. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit den spezifischen Herausforderungen, die beispielsweise eine Teilzeit-Verfügbarkeit von Orchestermitgliedern für ein Ensemble mit sich bringt. Da braucht es an manchen Stellen Um- und Neudenken, kollektives Bewusstsein, Kollegialität und Fingerspitzengefühl, aber von all dem orte ich beim BRSO eine Menge.

Interview: Nina Bovensiepen & Daniel Wiechmann